Anna Philipp

Mit der Entscheidung, Architektin zu werden, ist Anna Philipp ihrer Leidenschaft und auch dem Erbe ihrer Familie gefolgt. Letzteres hielt sie nicht davon ab, ihren eigenen Ansatz zu verfolgen, schöne Gebäude zu bauen. Entgegen Louis Sullivans wohlbekanntem Leitsatz „Form follows function“ setzt sie sich für die Ausgewogenheit von Schönheit und Funktion ein. Mit diesem Credo entwirft sie seit über 25 Jahren Villen, Häuser und sogar Sakralbauten. 2005 übernahm die gebürtige Stuttgarterin die Geschäftsführung des Büros Philipp Architekten, in den folgenden Jahren wurden ihre Leistungen mit zahlreichen Auszeichnungen – darunter die Hugo-Häring-Auszeichnung, der German Design Award und der „best architect 17“ Award – gewürdigt. Wir sprachen mit der Architektin darüber, was eine Renaissance des Schönen, für die sie leidenschaftlich plädiert, bewirken könnte.

Anna, du bist nicht die erste Architektin in deiner Familie. Hat das Erbe auf dich abgefärbt?

Ich bin die 11. Generation einer Architektenfamilie. In einer solchen Familie groß zu werden war extrem prägend. Architektur und Design haben immer eine Rolle gespielt und ich konnte mir schon als Kind ein recht genaues Bild davon machen, worauf ich mich einlasse, wenn ich mich in das Feld der Architektur begebe.

In was für einem Haus bist du aufgewachsen?

Mein Vater ist ein großer Anhänger Frank Lloyd Wrights und ich bin in einem Haus groß geworden, das nahezu ohne rechten Winkel nach dem 30-60-Grad-, dem Bienenwaben-Prinzip, gebaut wurde. Diese abstrakten Räume, die so außergewöhnlich sind, haben mich und mein Bewusstsein für Räume während meines Aufwachsens geprägt. Anders als mein Vater, der gerne verspielter baut und eine Architektur ohne allzu viele rechte Winkel liebt, folgt meine Stilrichtung einer eigenen, sehr geradlinigen, reduzierten Architektursprache, die eine Liebe zum Purismus widerspiegelt.

Wie hast du deine Stimme als Architektin gefunden?

Architektur ist meine Passion und ich bin ihr schlichtweg gefolgt. Ich liebe, was ich mache, und bin jeden Tag dankbar, dass ich mich mit Räumen, mit Gestaltung, mit schönen Dingen beschäftigen darf. Ich glaube, wenn man seiner Leidenschaft folgt, bekommt man automatisch eine Stimme in diesem Bereich, weil man eine Sicherheit, eine Gewissheit hat, wie Dinge sein sollen.

Gibt es Perfektion für dich?

Perfektion hat für mich etwas von Unmenschlichkeit und Fehlerlosigkeit. Das Perfekte ist nicht das Schöne. Es ist oft die kleine Imperfektion, die Dinge schön macht, die Dinge menschlich macht, die Dinge nahbar macht. Was ich anstrebe, ist nicht Perfektion, sondern Exzellenz. Exzellenz bedeutet für mich das Maximale, das Beste unter Berücksichtigung aller Rahmenbedingungen und Möglichkeiten für den Ort und die Menschen zu schaffen. Dabei gebe ich mich im Entwurfsprozess ganz hin, ich bin und bleibe aber ein Mensch jenseits der Perfektion.

Deine Entwürfe sind von Geradlinigkeit geprägt und sehr reduziert. Dennoch stehst du nicht ganz hinter Louis Sullivans Maxime „Form follows function“ – was stört dich daran?

Die Aussage an sich stört mich nicht, es ist vielmehr das, was dadurch ausgelöst wurde, nämlich die Verschiebung von Funktion und Schönheit. Bis vor etwa 100 Jahren gab es in der Architektur und im Design eine Balance zwischen den beiden Bereichen. Das ist, was wir schätzen, wenn wir Gebäude aus anderen Epochen betrachten. Durch die Hervorhebung der Funktion hat sich über die Jahre eine massive Verschiebung dahin ergeben, dass sie höher priorisiert wurde und sich über die Schönheit geschoben hat, die teilweise auch an Wert bei uns in der Architektur verloren hat.

Ist das heute noch der Fall?

Aktuell gewinnt die Schönheit wieder an Bedeutung und das Thema wird wiederentdeckt. Das war vor einigen Jahren noch völlig anders. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir eine Renaissance der Schönheit in der Architektur brauchen und dass es wieder eine Balance braucht zwischen Funktion und Schönheit und nicht wie bei der „Form follows function“-Bewegung eine Überhöhung der Funktion über die Schönheit. Schönheit ist nichts Oberflächliches, das nur dem Auge schmeichelt, sondern sie hat Kraft und Substanz, sie tut uns gut; ja, ich würde so weit gehen und behaupten, dass Schönheit uns im Innersten berührt.

Liegt wahre Schönheit damit jenseits von Trends und Epochen?

Roger Scruton äußerte dazu den Gedanken, dass Gebäude, die schön gebaut sind und ihre ursprüngliche Funktion verlieren, immer wieder eine neue Funktion finden würden. Eine Kirche zum Beispiel, die ein wunderschönes Gebäude ist und die Funktion des „Gotteshauses“ verliert, findet – zahlreiche Beispiele belegen das – als Bibliothek, Restaurant, Bürogebäude, Wohngebäude oder gar Club eine neue Funktion.

Wenn wir diesen Gedanken konsequent zu Ende denken, führt uns das unmittelbar zu dem für uns alle essenziellen Thema Nachhaltigkeit. Schönheit hat ganz viel mit Nachhaltigkeit zu tun. Ihr Beitrag zu Themen wie Zero Waste und Life Cycle Costing wird meiner Ansicht nach völlig unterschätzt. Vielleicht liegt es daran, dass sich diese Aspekte nur schwer messen lassen. Eines aber ist sicher: Architektur trägt Verantwortung. Wir müssen in Generationen denken, denn das, was wir heute gestalten und bauen, das kann einen Stadtraum noch in 100 oder 200 Jahren prägen.

Du hast die sakrale Architektur bereits angesprochen und selbst mehrere Kirchen und andere Gotteshäuser entworfen. Wie funktionieren sakrale Bauten im 21. Jahrhundert?

Ich habe mich viel mit dem Thema sakrale Architektur beschäftigt, weil Glaube für mich persönlich eine zentrale Rolle spielt. Ich bekam dann die Möglichkeit, die moderne Interpretation eines heutigen Klosters zu entwerfen. Es handelt sich dabei im Prinzip um ein Gebetshaus, das 24/7 geöffnet ist, einen sakralen Ort, der gleichzeitig lebendig, fröhlich und nahbar ist

Was unterscheidet diese Projekte von anderen?

Im Wesentlichen sind es zwei unterschiedliche Aspekte, die in der Architektur und im Interiordesign zum Ausdruck gebracht werden sollen. Die Grundidee hinter sakralen Bauten ist, Orte der Kontemplation zu erschaffen, die es dem Besucher leicht machen, sich auf die Begegnung mit Gott und das Transzendente auszurichten. Es sollen aber auch Orte entstehen, die von klösterlicher Stille weit entfernt sind und einen modernen, zeitgemäßen Rahmen für entspannte Begegnungen schaffen, die man so in einer Kirche nicht erwarten würde. 

Die cleane Ästhetik ist schon seit mehreren Jahren und in diversen Feldern sehr en vogue. Kann Architektur zu glatt sein? Wo suchst oder findest du Reibung und Kontraste?

Architektur kann ein Stück weit beliebig sein, das Prinzip „copy paste“ lässt Räume glatt und unpersönlich wirken. Das ist immer dann der Fall, wenn sie sich nicht die Mühe macht, auf Personen und Orte einzugehen. Deswegen ist für mich der persönliche Aspekt elementar. Für wen baue ich? Ich liebe es, meine Bauherren möglichst ganzheitlich zu erfassen. Dafür muss ich intensiv zuhören und gerade auch Dinge, die nicht artikuliert werden, wahrnehmen und erspüren. Wenn es mir dann in meinem Entwurf gelingt, diese Elemente mit der Einzigartigkeit des Bauortes zu verbinden, entsteht stets ein wertiges Unikat.